Polyneuropathien: Wenn Medikamente neurotoxisch sind

Dtsch Arztebl 2019; 116(37): [18]; DOI: 10.3238/PersNeuro.2019.09.13.03

 

Arzneimittelbedingte Neuropathien hängen in der Regel von der Dosis und der Dauer der Verabreichung ab. Meistens, aber nicht immer, bessern sie sich nach Therapieabbruch. Der Mechanismus der Schädigung ist fast immer unbekannt. Eine Auswahl.

 

Polyneuropathien sind in Abhängigkeit vom Alter mit einer Prävalenz von circa 5–8 % bei Erwachsenen die häufigsten Erkrankungen des peripheren Nervensystems. Das Auftreten steigt mit zunehmendem Alter. Diabetes mellitus ist die häufigste Ursache von Polyneuropathien in Europa und Nordamerika. Laut der nationalen Versorgungsleitlinie für Diabetes im Erwachsenenalter beträgt die Prävalenz der diabetischen Neuropathie 8–54 % bei Typ-1- beziehungsweise 13–46 % bei Typ-2-Diabetes. Daneben hat die alkoholassoziierte Polyneuropathie eine Prävalenz von 22–66 % unter chronisch Alkoholkranken (1). Die Prävalenz neuropathischer Schmerzen liegt weltweit laut Studien zwischen 7–10 % (2).

Polyneuropathien treten auch aufgrund genetischer Ursachen, infolge von Vitaminmangel oder Vitaminüberdosierungen, Toxinen, immunologischen Vorgängen und als unerwünschte Wirkungen von Medikamenten auf. Hier eine Auswahl.

 

Statine:

Die Polyneuropathie der HMG-CoA-Reduktase-Inhibitoren zeigt sich als Gruppeneffekt und ist in der Regel nach Absetzen der Medikation reversibel. Eine italienische Studie, die 2 040 Patienten mit diagnostizierter Polyneuropathie – mit einer Kontrollgruppe von 36 041 Patienten – unter der Medikation mit Simvastatin, Pravastatin oder Fluvastatin untersucht hat, kommt zu einem erhöhten Polyneuropathierisiko bei Statinen von 19 % (3). Auf der anderen Seite zeigte eine aktuelle kleine Fall-Kontroll-Studie aus den Niederlanden, die 333 Patienten mit axonaler Polyneuropathie mit 283 gesunden Patienten verglichen hatte, dass die Patienten mit Polyneuropathie deutlich seltener Statine eingenommen hatten (OR: 0,56; 95-%-Konfidentintervall [95-%-KI]: 0,34–0,95) (4).

 

Amiodaron, das meistverordnete Antiarrhythmikum,

ist ein Benzofuran-Derivat mit einer hemmenden Wirkung auf ventrikuläre und supraventrikuläre Herzrhythmusstörungen. Seine extreme Löslichkeit im Fettgewebe bewirkt das außerordentlich hohe Verteilungsvolumen und ist auch für die lange und individuell sehr variable Halbwertszeit von 30 bis weit über 100 Tage verantwortlich.

Es wird zwar den Klasse-III-Antiarrhythmika nach Vaughan Williams mit einer starken Hemmung der Kaliumkanäle zugeordnet, es besitzt aber auch eine mäßig stark hemmende Wirkung auf α-, β- (Klasse II) und muskarinerge Rezeptoren. Die Inzidenz der neurologischen Störungen scheint geringer zu sein, als man noch in den 1980er-Jahren angenommen hatte.

 

Eine Analyse von 707 Amiodaronpatienten der Mayoklinik, die 1996–2008 durchgeführt wurde, zeigte nur bei 2 Patienten eine nachweisbare Polyneuropathie, die plausibel auf das Agens Amiodaron zurückgeführt werden konnte (5). Die Fachinformationen führen periphere sensorische Neuropathien als gelegentliche Nebenwirkungen auf.

 

Die Polyneuropathie ist, wie auch bei Statinen, außer in Einzelfällen, reversibel. Die Therapiedauer gilt als Risikofaktor. Obwohl das Auftreten einer Polyneuropathie nicht mit einer höheren Dosis korreliert, können Dosisreduktionen Linderungen bringen (6).

Metformin: In Internetforen finden sich Angaben zum Auftreten von Polyneuropathien unter der Therapie. Es finden sich hierzu aber keine validen Studien. Die Fachinformationen machen hierzu auch keine Angaben. So sind die beobachteten Polyneuropathien ein Resultat der Grunderkrankung Diabetes mellitus.

 

Vincaalkaloide:

Vincristin zeigt eine Inzidenz von 30–40 % für periphere Neuropathien, die zudem stärker als bei Vinorelbin oder Vinblastin ausgeprägt ist. Bei etwa 50 % der Vinorelbin-Patienten zeigen sich Parästhesien.

 

Taxane:

Docetaxel hat eine Inzidenz von bis zu 50 % für CIPN, während bei Paclitaxel bis zu 95 % der Patienten unter peripheren Nervenschäden leiden. Das Auftreten verstärkt sich vor allem in der Kombination mit Platinverbindungen.

 

Platinverbindungen:

Unter der Therapie mit Oxaliplatin leiden bis zu 98 % der Patienten an einer akuten und bis zu 60 % an einer chronischen Neuropathie. Carboplatininduzierte periphere Neuropathien sind in vergleichbaren Dosen weniger häufig und milder als bei Oxaliplatin und treten nur bei bis zu 40 % der Behandelten auf.

 

Bortezomib und Thalidomid werden zur Behandlung des multiplen Melanoms eingesetzt.

CIPN tritt unter der Behandlung mit Bortezomib bei bis zu 75 % der Patienten auf, wobei bis zu 30 % der Behandelten über schwere Symptome klagen. In der Thalidomidtherapie variieren die Inzidenzzahlen zwischen 14 und 70 %. Die Kombination beider Arzneistoffe verstärkt den Effekt (7).

 

Antibiotika:

Isoniazid in der Behandlung der Tuberkulose greift in den körpereigenen Vitamin-B6-Stoffwechsel ein. Periphere Polyneuropathie mit Parästhesien und Sensibilitätsstörungen werden als häufige unerwünschte Nebenwirkung klassifiziert. Es wird daher standardmäßig in Kombination mit Pyridoxin gegeben, um peripheren Neuropathien als Nebenwirkung der antibiotischen Therapie vorzubeugen. Es ist zu beachten, dass auch Pyridoxin in unverhältnismäßig hohen Dosierungen periphere Neuropathien hervorrufen kann (8).

 

Des Weiteren können Ethambutol, Linezolid, Nitrofurantoin und Metronidazol periphere Neuropathien auslösen. Während diese bei Erstgenannten mit einer Inzidenz von maximal 5 % auftreten, können unter der Therapie mit Metronidazol bis zu 85 % der behandelten Patienten neurologische Symptome zeigen. Linezolidinduzierte Neuropathien können irreversibel sein (7).

 

Fazit

Bei Patienten, die unter Polyneuropathien leiden oder durch Diabetes mellitus beziehungsweise eine Alkoholsucht ein erhöhtes Risiko für die Entstehung einer Polyneuropathie haben, sollte die Therapie mit oben genannten Medikamenten (außer Metformin) vermieden werden.

Bei zwingender Indikation ist auf Symptome zu achten, um frühzeitig reagieren zu können und unnötige Leiden zu vermeiden. 

https://www.aerzteblatt.de/archiv/209628/Polyneuropathien-Wenn-Medikamente-neurotoxisch-sind?fbclid=IwAR1Tm0SbdMr7wiCZinRDiAqmYzFYVsSuRES-MsMLSh7y-fJWGH3MelP_9JM


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